Multimediale Zukunft


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Mit multimedialer Kompetenz in die Zukunft

von Tahetl-Matheis Horst

Auf dem Bildungsmarkt ist das multimediale Online-Fieber1 ausgebrochen. Vernetzt und multimedial soll das Lernen von heute sein, wenn es darum geht, eine lustmaximierende und bildungsfrustrierte Schülerschaft für das Lernen auf eine ungewisse Zukunft hin zu motivieren und im Globalisierungswettbewerb bestehen zu können. "Der moderne Lerner ist selbständig, gestaltet in Eigenregie seine persönlichen Lernprojekte - und zwar on demand - , hat eine Homepage im Internet, ist allseits bereit zum elektronischen Erfahrungsaustausch und beherrscht alle Regeln der Kunst zur netzbasierten Kooperation."2

Die Zukunft unseres Landes (für viele degeneriert zur Standortfrage) 3 hängt angeblich davon ab, wie das Bildungssystem auf die Anforderungen der Marketingstrategen global agierender Unternehmen reagieren wird. Gebetsmühlenartig wird wiederholt, daß sich der weltweite Wissensbestand alles 5 Jahre verdoppelt und die Innovationszyklen der Produkte immer kürzer werden4 und wir daher immer fixer mit unserem "Wissensmanagement" umzugehen hätten. Der Mensch müsse sich daher auf lebenslanges, selbstgesteuertes (und finanziertes) und teamorientiertes Lernen einstellen, wenn er/sie und damit die bundesrepublikanische Gesellschaft eine Chance im globalen Wettstreit der Giganten haben wolle. Selten waren sich über alle gesellschaftlichen Bereiche und Schichten hinweg alle derart einig wie in der Heilsvision der sog. Neuen Medien, gepaart mit konstruktivistischen Lernstrategien.

Dabei wird der Schule zunehmend die Schlüsselrolle zugeschrieben, junge Menschen auf ein "Leben in einer immer sich schneller wandelnden Gesellschaft vorzubereiten"5.Die Forderungen nach finanzieller Ausstattung der Schulen mit Computern, Netzen usw. belaufen sich auf Größenordnungen zwischen 2 und 14 Milliarden DM, allein für die Bundesrepublik.

Als ich gebeten wurde, auf diesem Bildungskongress als Sachverständiger für Neue Medien aus der Sicht des Praktikers 6 Stellung zu nehmen, versuchte ich mir vorzustellen, mit welcher Erwartungshaltung mir begegnet werden würde. Wenn von mir erwartet wird, dass ich in das Hohe Lied der Technikpreisung singe, dann muss ich leider etwas Salz in die Suppe streuen. Angesichts jahrelanger Erfahrungen im Umgang mit innovativen Unterrichtsstrategien und Neuen Medien haben sich Zweifel herausgebildet, die ich in den folgenden Thesen zusammenfassen möchte:

These 1

Das Rennen ist gelaufen. Multimediales, selbstgesteuertes und kooperatives Lernen wird die Lernform der Zukunft sein. Dies mag moralisierend bedauert oder euphorisch begrüsst werden, ändern wird die emotionale Haltung der Betroffenen diese Entwicklung nicht mehr. Allerdings zeitigt diese Entwicklung Konsequenzen, die vielfach mißachtet werden.

Kaum jemand zweifelt daran, daß der klassische Frontalunterricht mit passiven Zuhörern und Lehrenden, die mit allen Vollmachten der Fremdsteuerung ausgestattet sind, unzeitgemäß und ineffektiv ist.

Der Einsatz der Neuen Medien bedingt zum grossen Teil auch konstruktivistischen Lernstrategien und birgt damit ein hohes Maß an Selbststeuerung und Eigenverantwortung, dessen demokratisches Potential Konsequenzen weit über die Schule hinaus hat. Wer selbstverantwortlich und kooperativ lernt, wird dieses Prinzip auch in anderen Lebenssituationen anwenden können.

Dabei ist allerdings darauf zu achten, inwieweit der Umgang mit dem Computer Frustrationstoleranz und Arbeitsdisziplin schwächt, ohne die Lernen nicht funktioniert7.

Zudem gebe ich Otto Herz recht, wenn er sagt, daß gutes Lernen eigentlich immer nur dann gelingt, wenn man in hohem Maße das Leben teilt 8 und das garantieren die Neuen Medien eben nicht.

These 2

Neue Medien sind keine Heilsbringer, sondern mit Widersprüchlichkeiten behaftet, wie alles in dieser Welt. Die Perspektivenverengung auf die Sichtweise des homo oeconomicus verdrängt zudem gesamtgesellschaftliche Problemlagen, deren Diskussion angesichts des Entwicklungstempos kaum mehr möglich ist.

Neue Medien bergen demokratisches Potential in sich wie kaum eine kommunikationstechnische Entwicklung davor. Internet und CBT erlauben ein dem individuellen Lerntempo des einzelnen angemessenes Lernen, selbstgesteuert und in hohem Maße eigeninitiativ. Das Internet ist mit seinen Diensten eMail, NEWS, Chat und Videokonferenzen interaktiv, wie Brecht es sich in den Dreissiger Jahren vom Rundfunk erträumt hat. Zudem gestattet das Internet Kommunikation über nationale Grenzen hinweg und trägt somit auch friedensstiftendes Potential in sich.

Andererseits erlauben die Neuen Medien Kontrolle über den einzelnen oder Gruppen, wie kein Medium zuvor.9

Die zunehmende Vereinzelung und Zersiedelung, die Entfremdung und Entmenschlichung wird durch den Computer und die neuen Arbeitsformen (wie Telelearning usw.) allerdings weiter vorangetrieben. Wer sich nicht mehr real begegnet, der muss sich nicht mehr auseinandersetzen, weil er schon getrennt ist, wer den anderen nur mehr virtuell sieht, der fühlt , riecht und schmeckt nicht mehr - ist nicht mehr bei Sinnen.10 Mit-menschlichkeit heisst eben auch, dass man mit Menschen zusammen ist, sich liebt mit allen Sinnen, mit-leidet und Konflikte austrägt oder aushält. Das vermitteln die Neuen Medien per se nicht.

These 3

Schulen sind gegenwärtig durch heterogene und widersprüchliche Funktionen gekennzeichnet. Ihnen wohnt eine Organisationsform inne, die den Bildungsauftrag vielfach konterkariert. Bei der Einführung Neuer Medien müssen diese Bedingungen reflektiert und berücksichtigt werden.

Funktion von Schule ist nicht nur, die Kinder auf das Leben in einer immer schneller sich wandelnden Gesellschaft vorzubereiten11, sondern diese Kinder auch für das Beschäftigungssystem zu selektieren. Viele Lehrerinnen und Lehrer betrachten das als ihre Hauptaufgabe (Anteil an Schulzeit für Schulaufgaben, Extemporale, mündliche Prüfungen, IHK-Prüfungen, Abitur usw.). Die Selektionsfunktion zielt auf die Leistungsüberprüfung des einzelnen zum Zwecke einer besseren Einordnung in ein Leistungsgefälle und damit leichteren und zielgerichteteren Auslese für betriebliche Hierarchien. Die schulische Organisation mit 45-Minuten-Häppchen, Fächer-orientierung, oben genannten Prüfungen und Einzelkämpfertum ist kein Ort, an dem uns Zeit gegeben wird, zusammen zu lernen, zu wachsen und Lösungsmöglichkeiten für die Probleme dieser Zeit zu suchen. Erlaubt die Schule Umwege und Fehler? Ist die Schule ein Ort, wo Kinder und Jugendliche wirklich eigeninitiativ und selbstverantwortlich werden können und Ergebnisse kooperativ erarbeitet und vorgestellt werden können?

Ich befürchte, dass die Organisationsstruktur und die Funktionskreise sich der Vision kooperativen Lernen mit Neuen Medien gegenüber sehr resistent verhalten werden. Die Neuen Medien könnten allerdings - wenn die Wirtschaft das wirklich will - die Bildungseinrichtungen beträchtlich revolutionieren.

These 4

Bildung im Zeitalter der Neuen Medien erfordert vor allem den qualifizierten und instinksicheren Umgang mit überzähliger Information.

Ein vielfach erzähltes Märchen ist die Erzählung vom allzeit verfügbaren Wissen, jederzeit und überall abrufbar und zur Weiterverarbeitung aufbereitet. Mit einem Mausklick das Wissen von 2500 Jahren! Wie gesagt, ein Märchen, das Wissen mit Information verwechselt und von Menschen erzählt wird, die noch nie eine virtuelle Bibliothek besucht haben. Ich empfehle allen Politikern, die Dinge erst einmal auszuprobieren, bevor sie vollmundig darüber sprechen. Hier geht es nicht nur um die Bildung unserer Nachfahren sondern auch um viel, viel finanzielle Ressourcen, die den Schulen für andere Dinge (z.B. Bücher und Personal) dann nicht mehr zur Verfügung stehen.

Die Fülle der verfügbaren Informationen führt zudem zum Paradoxon, daß damit die Bedeutung und Bewertung von Information abnimmt. Anders ausgedrückt: die unüberschaubare Information macht es immer schwerer, Information zu Wissen und Erkenntnis zusammenzufügen (überzuführen). Dies zieht Anforderung an die Schulen und Universitäten nach sich, das Beurteilungs- und Bewertungsvermögen des einzelnen durch Training und Erziehung zu schärfen. Angesichts der o.g. strukturellen Bedingungen eine heillose Überforderung der Bildungseinrichtungen.

In der Praxis stellen sich dann Fragen wie:

Wie wählt ein Lernender aus Texten und Bildern Informationen aus, wie organisiert er die selegierten Wörter und Bildteile, wie kontruiert er daraus verbale und visuelle Modelle?

Wie führt er Information in Wissen und Erkenntnis über? Welche Welt konstruiert er sich damit?12

Wie macht der Lernende es, daß er sich in der Informationsvielfalt nicht verliert? Welche Wege schlägt er aus welchen Gründen ein? Was tut er, wenn er allein nicht mehr weiterkommt?13

Wie funktioniert die Kommunikation, die auf face-to-face-Begegnung ganz verzichtet? 14

These 5

"Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher der Lehrer weniger zu lehren braucht, die Schüler dennoch mehr lernen, in den Schulen weniger Lärm, Überdruß und unnütze Mühe herschen, daür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt." (J.A. Comenius, 1657)

Hierzu 6 Kriterien, die Hartmut Hentig in seinem Buch Bildung nennt:

1. Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit

2. die Wahrnehmung von Glück

3. die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen

4. Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz

5. Wachheit für letzte Fragen

6. die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica15

These 6

Die Rolle der Schule angesichts der derzeitigen ökonomischen und technischen Entwicklung ist eine reaktive, der realen Entwicklung in time-lags von einigen Jahren hinterherhinkende. Schule und Universitäten müssen einen eigenständigen, aktiven Weg gehen, wenn die aufklärerischen Ideale nicht auf dem Altar der Ökonomie geopfert werden sollen. Bildung ist mehr als nur die Bedürfnisse des Beschäftigungssystems möglichst adäquat zu erfüllen.

Können Bildungsinstitutionen angesichts der genannten rasanten ökonomischen Entwicklung wirklich noch belehrende Einrichtungen sein, die ökonomische oder gesellschaftliche Funktionskreise nachzubilden versuchen und in Sisyphus-Manier der realen Entwicklung hinterherhecheln? Pädagogik soll und kann nicht bis zur Selbstausbeutung auf gesellschaftliche Verhältnisse reagieren.16 Schule muß vielmehr Denken und Lernen lernen lehren, Grundmodule desjenigen gesellschaftlichen Wissens weitergeben und diskutieren, bei dem gesellschaftlicher Konsens besteht. Der gesamtgesellschaftliche Diskurs könnte mit Hilfe der Neuen Medien in und außerhalb der Schule in Gang gebracht werden.

Schule kann aber auch selbst aktiv werden und eine Lernkultur entwickeln, die den Beteiligten die Möglichkeit lässt, sich darüber zu verständigen, was für das Gelingen einer Biographie im Sinne gesellschaftlicher Herausforderungen gemeinsam getan werden kann (H.v.Hentig). Dabei können die Neuen Medien helfen, ein Heilsbringer sind sie per se nicht. Allerdings könnte mit dem Einsatz der Neuen Medien aus Schulen Lernwerkstätten werden, deren Räume vielfältige Möglichkeiten der Äußerung bieten. Dazu gehören neben den sachlichen Gegebenheiten (Tafel, Overhead, Druckerei, Computerinseln jedoch keine Lehrsääle, Videocamera etc.) auch Menschen, die eine positive Haltung gegenüber dem Lernen, die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen und den Respekt gegenüber dem Anderen und Andersdenkenden haben17 .

Mit kosmetischen Korrekturen und Abbildstrukturen der Wirtschaft ist es jedoch nicht getan. "Nur über einen systemischen Wandel, der Schulen, Hochschulen und berufliche Weiterbildung zu lernenden Organisationen macht, besteht die Chance, ein wirklich neues Lernen zu etablieren, das multimedial, selbstgesteuert und kooperativ, vor allem aber motiviert und anwendungsbezogen ist."18






 
© htm 11-02-2001 11:56:55